Frauke Burkhardt

Geboren als viertes von fünf Kindern in Hattingen-Niederwenigern. Seit 1983 wohnhaft in Bochum, ledig. Fachoberschulreife. Beschäftigt im Stadtarchiv Bochum. Bürokauffrau mit Zusatzzertifikat Wirtschaftsenglisch. Studium „Große Schule der Belletristik“ an der Hamburger Akademie. Ehrenamtlich tätig für die Aidshilfe Bochum. Publikationen: kleine Beiträge in Fachzeitschriften zum Thema Tierschutz Schwerpunkt: Pferde. August 2011: Debütroman „Drogenpott“ bei der edition Doppelpunkt (Pressel Verlag)  Februar 2019 Jung verliebt, im Rampenlicht beim Himmelstürmer Verlag . 2021,2022 Kurzgeschichten in den Anthologien Pink Christmas 11 und 12.  Oktober 2023 Rauschmord, Himmelstürmer Verlag 

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Auszug aus Rauschmord

Mischa ging vor die Tür. Draußen wehte ein eisiger Wind. Zum Glück hatte er es nicht weit. Er schlug den Kragen der gefütterten Jeansjacke hoch und bog zielstrebig in die Kurfürstenstraße ein. Die Wohngegend galt als sehr attraktiv. Keine riesigen Betonklötze, viel Grün, eine gute Anbindung ans öffentliche Verkehrsnetz, die Innenstadt und sämtliche beliebte Einrichtungen waren zu Fuß zu erreichen. Mischa war froh, hier eine bezahlbare Wohnung gefunden zu haben.

Ein Pärchen kreuzte seinen Weg. Der Anblick versetzte Mischa einen schmerzlichen Stich und einen Anflug von Neid. Wie gern hätte er auch jemanden an seiner Seite gehabt, aber er konnte keine Nähe mehr zulassen. Möglicherweise niemals wieder.

Hausnummer drei, eine Wohneinheit mit sechs Mietparteien. Sein Zuhause. Er stapfte in den Flur und ging zum Briefkasten. Ein paar Rechnungen und die Zeitung, sonst nichts. Ein Nachbar, ein älterer Mann, kam auf ihn zu geschlurft und deutete auf die Zeitung.

„Oben hinterm Engelbert haben sie wieder einen toten Junkie gefunden. Das ist dieses Jahr schon der zwölfte in unserer Stadt. Gott sei Dank, wohnen wir nicht im Brennpunkt. Wir haben nichts mit irgendwelchen kriminellen Asozialen zu tun. Wenn Sie mich fragen, sollte man die alle wegsperren.“

Mischa zuckte schweigend mit den Schultern.

Herr Vollmer schaute ihn verblüfft an. „Sind Sie anderer Meinung?“

Mischa runzelte die Stirn, blieb aber stumm. Herr Vollmer wandte sich kopfschüttelnd ab. Mischa ging in sein Apartment und feuerte die Jacke achtlos in die Ecke. Während er einen Kaffee aufbrühte, überflog er die Zeitung und las den Bericht über den Junkie. Ein Familienvater, der die Trennung von seiner Frau mit Drogen kompensiert, und sich nun den goldenen Schuss gesetzt hatte.

Zwölfter toter Junkie, lautete die Schlagzeile. Mischa lachte bitter. Was hätte er seinem Nachbarn antworten sollen?

Sie irren, ich drücke auch und es gibt nichts Geileres als einen Trip.“

Auch Doris wusste nichts davon. Bisher lief sein Doppelleben perfekt ab. Auf der einen Seite, der nette hilfsbereite, kinderliebe junge Mann von nebenan, der jedes Wochenende in die Disco fuhr und sich mit Kellnern ein paar Euro extra verdiente. Auf der anderen Seite, der zweite, lukrativere und kriminelle Nebenjob als Mitglied einer berüchtigten Bochumer Drogengang.

Mischa verspürte Leibschmerzen, sein Körper verlangte nach einer neuen Dosis. Seit zwei Jahren war das seine Formel von Glück. So verdrängte er den grässlichen Film, der immer wieder vor seinem inneren Auge ablief. Ein Autowrack, Schmerzensschreie, der Einstich einer Nadel, brutale Hiebe, ein Schatten, der über ihn herfiel.

Da half nur eines – mit einem ordentlichen Druck die Bilder wegschießen. Aber nicht nur die Erinnerungen, sondern auch die ständigen Kopfschmerzen. Vor dem Unfall hatte er sie nie gehabt. Eine körperliche Ursache dafür gab es nicht. Angefangen hatte sein Weg in den Sumpf mit der fragwürdigen Therapie einer anerkannten Psychologin und seitdem versank er immer tiefer.

Die Gedanken verflogen bei der Vorfreude auf den Schuss. Fahrig übte er die notwendigen Handgriffe aus. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen, bis er das abgekochte Heroin in die Spritze ziehen konnte. Mit einem Gürtel band er sich den Arm ab und drückte das Gift wie automatisch in die Vene. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.

Total abgefahren“, murmelte er zufrieden.

Sein Kumpel und Studienkollege Bernd riet ihm immer wieder, einen Entzug zu machen, doch er sah keinen Grund. Paco Vegas, sein Dealer, hatte ihm ein Angebot gemacht, wie er den Stoff günstiger bekommen konnte. Da er sich damit strafbar machte, durfte Mischa sich auf keinen Fall erwischen lassen und auch Paco würde bestimmt nicht erfreut sein, sollte er die Aufmerksamkeit der Bullen erregen. Mischa hatte gehört, Paco wäre sehr brutal, wenn etwas schiefging.

Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, machte sich in der Küche eine Schnitte Wurstbrot zurecht, aß sie wie automatisch, ohne wirklich Hunger zu haben. Anschließend rief er bei seinem Dealer an. Erst nach langem Klingeln meldete Paco sich.

„Gott sei Dank. Ich dachte schon, du bist unterwegs“, murmelte Mischa.

„Was willst du? Es gibt doch wohl hoffentlich keine Probleme?“ Pacos Stimme klang misstrauisch.

„Alles roger, aber mein Braunes ist fast alle. Ich brauche Nachschub.

„Hast du Kohle?“

„Übliche Konditionen?“

„Ja, aber dafür checkst du die Tage etwas in Rotterdam, claro?“

„Ja, Mann.“

Morgen, gegen zwölf, am Rosengarten“, brummte Paco und legte auf.

Mischa trank den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee und verzog das Gesicht. Das Zeug schmeckte wie Galle.

Er schaltete die Stereoanlage an, tanzte zu den harten Techno-Rhythmen, bis ihm der Schweiß ausbrach. Er lief ins Bad, um eine erfrischende Dusche zu nehmen. Das Wasser ließ ihn neue Energie verspüren. Er rubbelte sich trocken und schaute in den Spiegel. Melancholische, blaue Augen unter einem dunklen wuscheligen Haarschopf blickten ihm entgegen.

Er sprach mit seinem Spiegelbild. „Niklas, es wird Zeit, dem lieben Doktor Martinez einen Besuch abzustatten.“

Der Arzt war in seinen Augen mitschuldig an seinen Problemen. Er würde ihm die längst fällige Buße abverlangen. Und sein zweites Ich, Niklas würde ihm dabei helfen.

Er blickte auf die Uhr. Doktor Martinez musste noch in der Praxis sein.

Vorher zog Mischa sich um. Dunkle Hose, Rollkragenpullover, Handschuhe und seine schwarze Lederjacke. Er schob einen Revolver darunter.

Als er hinausging, war keine Menschenseele zu sehen, außer Hundegebell nichts zu hören. Nach wenigen Minuten erreichte er das Haus mit der Nummer einundfünfzig. Er klopfte an die Praxistür. Ein Mann mittleren Alters öffnete und blickte ihn überrascht an. „Du?“

„Willst du mich nicht hereinbitten?“

Verschwinde, oder ich rufe die Polizei. Schon vergessen, Junkie, du hast Hausverbot.“

Mischa ignorierte die Aufforderung. „Ich habe ein paar eindeutige Fotos von dir und Ute gemacht. Wie Papa die wohl finden würde?“

Du bluffst.“

So? Ich sag nur Waldschlösschen. Glaub mir, es wäre besser für dich, du gestehst meinem alten Herrn, dass du seine Frau vögelst.“

Da Doktor Martinez ihn nun eintreten ließ, glaubte Mischa sich am Ziel. Lässig versuchte er die schwere Tür mit dem Fuß zu schließen, doch sie fiel nicht zu, sondern blieb angelehnt.

Was soll's, draußen ist kein Mensch. Wir sind ungestört, außerdem dauert es nicht lange, denn diesmal habe ich die Trümpfe in der Hand, dachte Mischa und maß den Arzt mit kühlem Blick. Der verzog keine Miene und erwiderte in gelassenem Tonfall.

„Wenn du versuchst, Ute und mir Ärger zu machen, lasse ich bei der Polizei verlauten, womit du noch so Geld verdienst. Einige Jahre Knast wären dir sicher. Und was dein Vater wohl dazu sagen würde, dass sein sauberer, schwuler Herr Sohn, auf den er eh nicht gut zu sprechen ist, zu den berüchtigten Eagles gehört?“

Mischa spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, denn ihm wurde heiß. „Woher weißt du davon?“

Auch ich habe meine Quellen. Du steckst schön tief drin, mein Lieber.“

Mischas Augen schienen Funken zu sprühen. „Nenn mich nicht mein Lieber, du Wichser.“

Hüte deine Zunge. Wieso arbeiten die mit einem Süchtel wie dir zusammen?“ In gehässigem Tonfall fügte er hinzu. „Was meinst du, wie lange macht dein Körper noch mit?“

Mischa gab keine Antwort. Er zog stattdessen seinen Revolver, richtete ihn auf Doktor Martinez. „Los, in den Behandlungsraum.“

Er ließ den Doktor vorangehen und wies auf den Glasschrank in der Ecke, der etliche Schmerz-und Narkosemittel beinhaltete. „Schließ auf.“

Der Mediziner gehorchte. „Bediene dich und dann verschwinde. Traurig, was für ein Assi aus dir geworden ist.“

Du bist der Letzte, der sich darüber ein Urteil erlauben darf“, erwiderte Mischa.

Doktor Martinez streckte auffordernd die Hand aus. „Gib mir den Revolver, Schwuchtel, bevor jemand zu Schaden kommt.“

Mischa ignorierte den aufkommenden Kopfschmerz. Er fuchtelte mit der Waffe vor Martinez' Gesicht herum. „Nein, du sollst wissen, wie sich das anfühlt.“

Er zeigte auf ein starkes Beruhigungsmittel, das als Infusion verabreicht wurde. „Davon verpasst du dir jetzt selbst eine Dosis.“

„Gib du sie mir doch.

Mischa wurde ungehalten. „Mach schon.“

Seine Kopfschmerzen nahmen immer mehr zu. Instinktiv fasste er sich an die Stirn und ließ dabei den Revolver sinken. Fast im selben Augenblick trat Doktor Martinez kräftig zu. Ein glühender Schmerz fuhr durch Mischas Unterleib. Er krümmte sich zusammen.

Der Arzt entriss ihm die Waffe und schloss den Medizinschrank.

Mischa rang nach Luft. Er sah, wie lässig Doktor Martinez den Revolver festhielt. Offensichtlich fühlte er sich deutlich überlegen.

Gehst du Loser freiwillig, oder muss ich dir erst richtig wehtun?“

Mischa fühlte sich mit der Situation überfordert und rief innerlich nach Niklas. „Hilf mir.“

Keep cool. Alter“, bekam er zur Antwort und Mischa fühlte sich gleich sicherer.

Dem Doktor gegenüber gab er sich angeschlagener, als er wirklich war. „Okay, du hast gewonnen.“

Doch kaum drehte sein Gegner ihm den Rücken zu, stürzte Mischa sich wie ein Raubtier auf ihn und versuchte, ihm den Revolver wieder abzunehmen. Ein erbitterter Kampf entbrannte. Die Waffe flog durch die Luft, prallte gegen den Heizkörper und blieb dicht davor liegen.

Mischa ballte vor Wut die Fäuste. „Elender Bastard, ich leg dich um“, drohte er.

Mal sehen, wer hier wen killt. Ich kann sagen, es wäre Notwehr gewesen.“

Gleichzeitig waren sie an der Heizung und griffen nach der Waffe. Mischa war einen Sekundenbruchteil schneller. Er fasste nach dem Kolben, als ein bohrender Schmerz seinen Schädel durchzog, danach versank sein Bewusstsein in Schwärze. Er verlor jede Erinnerung an den folgenden Augenblick.

Nach und nach wurde es wieder hell um ihn herum. Der Schmerz in seinem Kopf verschwand. Zu seiner Verwunderung lag er auf dem Boden. Seine Waffe war nirgends zu sehen.

Anscheinend bin ich weggetreten. Hat der Mistkerl mir den Revolver abgenommen und über den Schädel gezogen?

Er betastete seinen Kopf, konnte aber keine Beule oder Wunde fühlen. Mischa richtete sich auf. Er ließ seine Blicke durch den Raum schweifen und erstarrte – nur wenige Meter von ihm entfernt lag Doktor Martinez leblos am Boden. Die helle Wand hinter ihm war übersät mit Blutspritzern. Fassungslos blickte Mischa in zwei glasige Augen. Die Totenfratze schien immer näher zu kommen. Er presste die Hand vor das Gesicht und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.

Gott vergib mir. Das kann doch nicht ich getan haben? Niklas. Er muss es gewesen sein. Wo hat er den verdammten Revolver gelassen?

Er musste schleunigst verschwinden, wenn er nicht am Tatort gesehen werden wollte. Panisch rannte er zu Praxistür hinaus, hetzte die menschenleere Straße entlang.

Anscheinend hat noch niemand etwas bemerkt, aber was soll ich jetzt bloß tun?

Sein Herz schlug noch immer wie ein Hammer, als er sein Apartment erreichte.

Paco muss mir aus dieser Misere helfen.

Mit zitternden Händen griff Mischa zum Telefon und wählte zum zweiten Mal an diesem Tag die Nummer seines Dealers.

„Ruf mich nicht ständig an, das könnte auffallen“, schimpfte Paco.

Mischas Stimme überschlug sich fast. „Niklas, der Idiot, hat Mist gebaut. Doktor Martinez ist tot. Ich muss untertauchen.“

Pacos Tonfall wurde kalt. „Freak, halt ja die Füße still. Tue, was ich dir sage. Und mit Frank werde ich auch reden müssen.“

 

 

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